Eisenbahn-Markthalle als Gemüse-Exil

von Stefan Bartylla | Die Markthalle IX steht in der Gegend, in der Herr Lehmann gekellnert und gesoffen hat und in der seine Geschichte zu Mauerfallzeiten spielte. Hier gibt es das Weltrestaurant Markthalle und im Keller den Privatclub. Nebenan kuscheln sich ulkig-freakige Trödler, Szene-Gastronomie, Gardinenkneipen, Türkenbäcker und vor allem ein Spätkaufladen neben dem anderen.

Sternekoch Tim Raue kennt die Halle sogar noch aus Kindertagen © stefan bartylla

In den Straßenzügen zwischen Köpenicker- und Oranienstraße, im gefühlten Tränengas-Radius rund um das Haus Bethanien ist der Kiez geprägt von Sponti-Parolen auf abgeblättertem Putz. Hier, wo sich die Dinge über 30 Jahre lang zwischen Kommune und Koran abspielten, ist der allseits gefürchtete Kommerz ins Dreieck Kotti – Görli – Moritzplatz bereits eingezogen.

Zur Sommerzeit hat die Oranienstraße als Gastro-Meile und Shoppinglocation für zahlreiche Special-Interests schon längst ihre feste Größe in der To-Go-Liste zahlreicher Berlinbesucher gefunden.  Ein McDonald´s-Restaurant hat im Kiez bereits vor einigen Jahren eröffnet und Anbieter von namensschweren Cowboystiefeln, markenträchtiger Second-Season-Wear und gepflegt sortierter Auswahl an Bildbänden zählt die inoffizielle Hauptdemostrecke zwischen Görlitzer Bahnhof und Moritzplatz schon seit geraumer Zeit zu ihren Anliegern.

Jazz-Sounds von Mimmo Renzi als Klangteppich zum Nachhaltigkeits-Event © stefan bartylla

Große, bekannte und immer an solchen Metropolen-Orten auftauchende Label-Vertretungen, Flagship-Stores und Branding-Stationen suchen gewöhnliche Souvenir-, Devotionalien- und Marken-Ketten-Konsumenten vergebens.

Es sind die eher schrulligen Offerten und Orte, die gerade internationale Touristen in diesen Teil Berlins locken. Mit den Gästen kommt auch das Geschäft –  und mit dem Geschäft noch mehr Geschäfte – ja und mit denen auch die nicht immer unbegründete Angst vor Mietpreissteigerungen im lokalen Wohnungsangebot.

Es ist kein Geheimnis, dass diverse Schatzsucher in Sachen Gewerbeimmobilien schon seit geraumer Zeit die Perlen im Gebiet auf ihre Portfolio-Schnürchen ziehen wollen – hier geht noch was im oberen Profit-Level. Und eine der Austern, in der eine solche Perle schon bald poliert werden könnte, ist die Markthalle Nr. 9, die Eisenbahnhalle, deren Namen von ihrer Straßenadresse abgeleitet wurde und auf eine Tradition bis ins vorletzte Jahrhundert verweisen kann.

Zur Zeit im Winterexil: Die Beete der Prinzessinnengärten © stefan bartylla

1891 als eine von vierzehn Markthallen im wilhelminisch geprägten Berlin eröffnet, sah der Grundriss Platz für über 300 Stände vor.

Selbst die Fliegerbomben des 2. Weltkrieges und auch die Teilung der Stadt ließen die Markthalle in ihrem Betrieb über all die Jahre nahezu unbeschadet.

Erst der Discounter-Trend der vergangenen beiden Jahrzehnte sorgte für immer größere Lücken in den Standzeilen. 2005 machte schließlich der letzte Einzelhändler dicht.

In integrierten Kaufhallen gibt es nun eine Drospa-Drogerie, einen KIK-Discounter und einen ALDI-Markt und nur noch einzelne Gastro-Stände erinnern ein wenig an die Markttradition der großen Gesamthallen.

Aber nun soll alles wieder anders werden – eine Renaissance der großen Tage der Eisenbahnhalle in Kreuzberg steht bevor, wenn es nach dem Willen der Projektgruppe Markthalle IX geht.

Die hatte sich 2009 mit dem Ziel zusammengeschlossen, das Objekt als sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Kiezes authentisch und denkmalgerecht wiederzubeleben. Nachdem der sogenannte „bedingungslose Verkauf an den höchstbietenden Interessenten“ Anfang 2010 vom Senat gestoppt wurde, möchte man nun im Zusammenschluss mit Anwohnern und anderen Akteuren den kleinteiligen Einzelhandel auch unter stadtentwicklungspolitischen Aspekten bevorzugen.

Banner der Kreuzberger Tourismussite

Die Konzeptionsphase läuft dazu bereits schon seit Mitte 2010 und soll zum 120-jährigem Bestehen am 1. Oktober 2011 umgesetzt werden. Bis dahin werden in der denkmalgeschützten Halle noch etliche Veranstaltungen über die Bühne gehen, um nicht zuletzt auch Einzelhändler und Initiatoren für das Objekt zu begeistern.

Fischgrundlage zum Nachhaltigkeitstag in Sachen Slow-Food

Fischgrundlage zum Nachhaltigkeitstag in Sachen Slow-Food © stefan bartylla

Eine ganze Reihe solcher Veranstaltungen werden derzeit zum Advent dort präsentiert. Allen Aktionen ist eins gemein: Ihre Viefältigkeit. Nach mexikanischem Totenfest, Kunstausstellung und Kinderflohmarkt fanden unlängst die Winterbeete des Prinzessinengartens am Moritzplatz ihr Winterquartier in der Halle und am vergangenen Wochenende gab es den Support-Act zum „Terra Madre Day 2010“.

Sterne-Koch Tim Raue, der in dieser Gegend aufgewachsen ist, präsentierte in Kooperation mit den Zutatenlieferanten aus den Prinzessinnengärten am Gründungstag der Slow-Food-Bewegung eine regionale Komposition aus Fisch, Kräutern und Gemüse.

Wer sich bis Weihnachten selbst einmal ein Bild vom Geschehen in der Halle an der Eisenbahnstraße machen möchte, dem sei ein Besuch des Handmade-Supermarktes am vierten Adventswochenende empfohlen. Hier werden Händler ausschließlich handgemachte Produkte in Sachen Mode, Schmuck, Geschirr und Fotografie präsentieren.

Weitere Projekte unterm historischen Hallendach listet die Initiativ-Site www.markthalle9.de.

2 Kommentare zu "Eisenbahn-Markthalle als Gemüse-Exil"

  1. denkmalgerecht ist doch mal ein gutes Ziel. Da bin ich froh, dass für die Stadt der Profit nicht an allererster Stelle stand. Toller Bericht.. weiter so

    Martin

  2. …hmmhh…ob tim inzwischen auch den guten SAKE von mizubasho verkostet hat?

    wir werden gespannt zuwarten.

    anjinsan

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